Es lohnt sich zuzuhören
von Ursula Thöle-Ehlhardt
Die Bilder und Geschichte der Frauen, die im Zuge der Gastarbeiter-Bewegung vornehmlich in den 70er Jahren zu uns kamen, sind vielfältig, individuell, besonders, einzigartig. Sie dienen nicht für Pauschalurteile, sie taugen nicht für ein homogenes Bild, sie lassen sich nicht in Schemata pressen. …
… In jeder unserer Geschichten wird etwas ganz Persönliches, auch Vertrauliches deutlich. Wir als Projektgruppe hatten die Chance in ganz private Erinnerungen, Familienereignisse, Lebenshintergründe zu schauen – gemeinsam mit jungen Frauen aus unterschiedlichen Kulturen, die sich mit der Generation ihrer Großmütter beschäftigten, die nachfragten: Wie war das eigentlich, damals?
Hier spricht Alt zu Jung, Großmutter zu Enkelin, Migrantin zu Nicht-Migrantin, Mutter zu Tochter…..und umgekehrt. Und sie sprechen über ihre eigenen Erfahrungen, über das, was ihnen wichtig ist, was ihnen geholfen hat genauso wie über das, was schwierig war. Es sind sehr private Sichtweisen, sehr persönliche Einblicke in das Leben von Frauen, die sich auf den Weg gemacht haben – auf einen für sie neuen und unbekannten Weg. Die Geschichten sind nicht immer gradlinig, sie zeigen Brüche, sie zeigen Irritationen, sie zeigen Verunsicherung und manchmal auch Überforderung, aber immer auch Kraft, Mut, Gestaltungswillen und eine sehr individuelle Lebensenergie sich diesen Herausforderungen zu stellen.
Wir erhielten Einblick in Privates bis hin in die familiären Fotoalben – und das trotz des Bewusstseins der Öffentlichkeit, die wir mit diesem Buch schaffen. Auch dazu gehört Mut, und dafür bedanke ich mich aufrichtig bei allen, die uns das ermöglicht haben. Auch dies ist ein Weg, Menschen – und hier vor allem auch junge Menschen – mitzunehmen auf dem Weg einer Verständigung zwischen den Kulturen, genauso wie zwischen den Generationen. Wir alle können daraus etwas lernen – wenn wir die Bereitschaft mitbringen zuzuhören.
Unser Buch entspricht nicht den Maßstäben der Objektivität, unser Ziel ist nicht eine wissenschaftliche und historische Aufarbeitung von Aspekten der Gastarbeiter-Geschichte. Wir möchten bewusst die individuellen Lebensgeschichten dieser Frauen gleichwertig und unkommentiert nebeneinander stehen zu lassen. Wir möchten sie in ihrer ganzen Vielfalt würdigen. Jede Geschichte ist einzigartig und besonders. Aber zu jeder Geschichte gehören auch die Lebensbedingungen im Umfeld, in den Familien wie auch in unserem Ort Buer – die Begegnungen mit den hier Einheimischen, mit den Nachbarn, in den Kindergärten und Schulen, mit den Kolleg*innen am Arbeitsplatz, mit Ladenbesitzer*innen und vielen anderen Personen. Auch diese kommen hier zu Wort – immer auch mit ihrem besonderen persönlichen Blickwinkel.
Das Zuhören bietet die Gelegenheit sich den Menschen anzunähern. Unser Ziel ist es, Frauen eine Stimme zu geben, die kaum wahrgenommen wurden, die kaum eine Chance hatten sich mit ihren Lebensbedingungen wahrnehmbar zu machen. Wem konnten sie ihre Ängste, ihre Sorgen und Nöte, ihre Hoffnungen, Wünsche und Gedanken, ihre Freude und ihren Stolz anvertrauen? Ihnen eine Stimme zu geben ist aus unserer Sicht auch eine Form der Wertschätzung.
So finden sich in diesem Buch Mosaiksteine, die vielleicht das eigene Bild jeder Leserin, jedes Lesers erweitern, die vielleicht neue Perspektiven aufzeigen, die vielleicht Vorannahmen bestätigen oder verwerfen, die Fragen mit sich bringen – die aber auf jeden Fall etwas verändern. Und genau dies möchten wir erreichen. Wir möchten, dass mehr Menschen zuhören, dass mehr Menschen hinschauen auf das, was diese Frauen zu sagen haben. Das Zuhören und die Bereitschaft zum Verstehen schaffen die Basis für ein gelingendes Miteinander. Die Erinnerungen der zu uns gekommenen Frauen spiegeln auch einen Teil unserer Lebenskultur und unserer Lebensgeschichte wieder – mit allen Lücken, die dazu gehören.
Erinnerungen sind immer geprägt durch die ganz persönlichen Lebensbedingungen und Lebenserfahrungen, die zwischen den alten Zeiten und dem Jetzt liegen. Sie sind immer Prozesse der inneren Bewertung des eigenen Lebens. Aber jede individuelle Erinnerung ist auch eingebettet in die Erinnerungskultur der jeweiligen Gemeinschaft – sei es nun die Gemeinschaft, die aus der alten Heimat mitgenommen wurde, oder die der hier bestehenden Dorfgemeinschaft. Erinnerungskultur gilt sowohl für die aufnehmende als auch für die ankommende Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich dann auch die persönlichen Erinnerungen.
Unsere Geschichten sind schnörkellos erzählt, oft reduziert auf einfache Sätze, reduziert auf das Beschreiben von Lebenssituationen mit einfachen, aber klaren Worten – unaufgeregt, ohne eine verbale Dramatik. Sie spiegeln das Leben einfacher Menschen wider, das Leben von Frauen, die sich großen Herausforderungen gestellt haben. Das Erinnern, das Erzählen, das Zuhören, das Aufschreiben und das Nachlesen, der Blick auf die eigene Lebensgeschichte und unser Blick auf die Lebensgeschichte des Gegenübers bringen oft eine tiefe Emotionalität mit sich – dieses zuzulassen war und ist an vielen Stellen eine große Herausforderung. Diese Emotionalität hat das umfassende Miteinander in diesem Projekt geprägt und gegenseitiges Vertrauen erlebbar gemacht.
Es lohnt sich zuzuhören!